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Verurteilt

Ihre Magnetrezeptoren haben Verbindung zu einer fernen Kultur, und soweit man es beurteilen kann, dienen die Signale ausschließlich friedlichen Zwecken. "Im Namen des Volkes wollten wir euch ausrotten. Es durfte dabei weder gegurrt noch gelacht werden. Das Gemeinwesen finanzierte das Projekt. Ihr seid nun die letzten vier Tauben. Was sagt ihr zu eurer Verteidigung?", fragte die Richterin ernst. Das Straßen-taubenpärchen, die mazedonische Drehtaube und die Brieftaube schauten sich an und gurrten kurz. Dann ergriff die Brieftaube das Wort:
"Hochverehrtes Publikum, die Steinbauten der Mesopotamier vor 8000 Jahren gefielen unseren Vorfahren, den Felsentauben, so gut, dass sie in deren Hohlräumen brüteten. Doch bald gab es so viele zu ernährende Menschen, dass man uns Eier oder Junge wegnahm. In unserer Gutmütigkeit ließen wir dies zu und im Gegenzug begannen die Menschen, uns mehr und besser zu füttern, besonders als sie herausfanden, dass wir auch noch Dünger für die Felder lieferten. Ohne unsere Verbindung hätte sich die Kultur der Menschen gar nicht so weit entwickeln können. So baute man uns endlich spezielle Türme aus Steinen, sehr geräumig und sicher vor Schlangen und Mardern. Oben befand sich ein Loch für den Ein- und Ausflug. Aber wenn Getreidesamen auf den Feldern ausgesät waren, sperrte man uns so lange ein, bis die Körner gekeimt hatten. Erst dann ließ man uns heraus, um die Samen von Gräsern, Wicken und anderen Unkräutern zu picken." Die Brieftaube blickte dabei der Richterin ins Gesicht, als erwartete sie eine Reaktion. "Wir waren gleichzeitig Unkrautvernichter und Dünger-Lieferanten. Kann man uns da einen Vorwurf machen?", warf die dunklere der beiden Straßentauben ein, weil ihr die Pause zu lange war. Wieder kam kein Kommentar.
Die Brieftaube fuhr fort: "Die ersten Taubentürme stürzten ein, wenn wir alle zusammen in ihnen aufflogen und unsere Flügel gleichmäßige Schwingungen auslösten. Mathematiker und Architekten lösten das Problem mit Hilfe unserer Verbindung zu der entfernten Kultur. Sie entwickelten eine Formel, um die Taubentürme so zu bauen, dass sie bei synchronisiertem Flügelschlagen nicht mehr einbrachen. Diese Formel ging verloren, als man sich nicht mehr für uns interessierte. Andere Nahrungsquellen, Kunstdünger und Unkrautvernichtungsmittel waren den Menschen wichtiger geworden. Das schönste für unsere Vorfahren war aber, dass man sie wegen der Art ihrer Liebe bewunderte. Wir leben unser ganzes Leben lang in Einehe und kümmern uns gemeinsam um den Nachwuchs. So wurden wir in den Religionen zu Göttern der Liebe. Unser Wesen war ein beliebtes Vorbild für das friedliche Zusammenleben und schien von einer anderen Welt gesteuert zu werden." "Soll ich sagen, in uns wohnt etwas Göttliches? Denn eine Sturzflugtaube stellt den Heiligen Geist dar", ergänzte kurz die weiße mazedonische Drehtaube.
"Botenflüge meiner Vorfahren entschieden Streitigkeiten. Weil die Menschen selbst nicht schnell und unerkannt vorwärts kommen konnten, hing die Übertragung von Nachrichten Jahrtausende lang an uns. Die Kinder der Sieger bekamen goldenen Ringe um die Füße", erklärte die Brieftaube. "Andere von uns zeigten zauberhafte Flugfiguren wie Purzel-bäume, Drehungen, Sturzflüge und andere Kunststücke. Dann gab es Hochflieger, die für mehrere Stunden teilweise bis in unsichtbare Höhen verschwanden", schwärmte die mazedonische Drehtaube. "Die Römer und Gallier begeisterten sich für besonders große Exemplare", bemerkte die hellere Straßentaube. "Früher riefen unsere Farben, Muster und Formen Erstaunen hervor. Purpur und grün glänzende Hälse, Schwänze wie Pfauen, Perücken, Hauben oder Kappen und große, blasende Kröpfe. Aber das alles, sowie die faszinierende Musik der Trommeltauben ging verloren", seufzte die dunklere Straßentaube. "Wir brauchen euch aber nicht mehr. Ihr schmarotzt in unseren Städten und verdreckt unsere Häuser", erklärte die Richterin, als wäre ihr Leben bedroht. "Mit eurer Beseitigung werden wir unsere Kultur säubern." "Wir verstehen, wenn man unser Fleisch, unsere Eier und vor allem unsere Eigenschaften nutzt. Unser Verschwinden wird euch nicht weiterbringen", bemerkte die Brieftaube enttäuscht. "In allen guten Zeiten, wenn Kultur und Wohlstand wuchsen, lebten die Menschen friedlich mit Tauben. Nur in schlechten und kulturlosen Zeiten hasste man uns und hat uns vernichtet", sagten alle Vier gemeinsam.

Die vier letzten Tauben hatten über die Ursprünge der gemeinsamen Kultur bereits mehr vergessen, als die Menschen je gewusst haben. Der Kontakt zur ferner Kultur brach ab.

Dr. Hubert Hug, D-Schliengen Niedereggenen

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